Das unruhige Innenleben eines jungen Sternhaufens

Forschungsbericht (importiert) 2011 - Max-Planck-Institut für Astronomie

Autoren
Rochau, Boyke; Brandner, Wolfgang; Gennaro, Mario; Gouliermis, Dimitrios; Da Rio, Nicola; da Rio, Natalia; Henning, Thomas
Abteilungen
Abteilung Planeten- und Sternentstehung (Thomas Henning)
Zusammenfassung
Der Bewegungszustand der Mitglieder eines nur eine Million Jahre alten Sternhaufens in der Milchstraße wurde ermittelt. Der Haufen steht im Zentrum des leuchtenden Gasnebels NGC 3603 und ist einer der massereichsten seiner Art. Zur Bestimmung der Geschwindigkeiten der einzelnen Sterne verglichen die Forscher Beobachtungen des Weltraumteleskops Hubble, die zehn Jahre auseinander liegen. Der Vergleich lieferte Bewegungen von Hunderten von Sternen und zeigt, dass die Haufenmitglieder noch keinen langfristig stabilen Gleichgewichtszustand erreicht haben.

Offene Sternhaufen (wie etwa die bekannten Plejaden) leben gewöhnlich nicht lange: Innerhalb einiger Dutzend Millionen Jahre laufen ihre Sterne auseinander. Bei sehr massereichen und kompakten Sternhaufen ist das anders: Mit der Zeit können sich aus ihnen langlebige "Kugelsternhaufen" entwickeln, deren dicht gepackte Sterne sich gegenseitig so stark anziehen, dass sie über Milliarden von Jahren hinweg zusammen bleiben.

Mit mehr als 10.000 Mal der Masse der Sonne, konzentriert in einem Volumen mit nur drei Lichtjahren Durchmesser, ist der junge Sternhaufen im Nebel NGC 3603 (Abb. 1) einer der kompaktesten Sternhaufen in unserer Heimatgalaxie, dem Milchstraßensystem. (Zum Vergleich: In unserer direkten kosmischen Nachbarschaft findet sich im gleichen Volumen nur ein einziger Stern, nämlich unsere Sonne.) Wird sich dieser Haufen zu einem Kugelsternhaufen entwickeln?

Um diese Frage zu klären, hat eine Gruppe von Astronomen des Max-Planck-Instituts für Astronomie (MPIA) und der Universität Bonn unter Leitung von Wolfgang Brandner (MPIA) die Eigenbewegung (das ist die Komponente der Raumbewegung der Sterne am Himmel, senkrecht zu unserer Blickrichtung) von Hunderten von Haufenmitgliedern verfolgt. Solche Untersuchungen können zeigen, ob der Haufen sich langsam auflöst, oder ob er sich zu einem langfristig stabilen Gleichgewichtszustand hin entwickelt. Außerdem können dadurch die Sterne des Haufens von unbeteiligten Sternen unterschieden werden, die nur zufällig – von der Erde aus gesehen – in der gleichen Blickrichtung stehen.

Die dafür nötigen Messungen sind schwierig. Angenommen, ein Stern bewege sich von der Erde aus gesehen mit einer Geschwindigkeit von einigen Kilometern pro Sekunde seitwärts (eine typische Geschwindigkeit für Sterne in Sternhaufen): Aus einer Entfernung von 20.000 Lichtjahren betrachtet (das ist der Abstand von NGC 3603 zur Erde) verändert sich seine Position am Nachthimmel nur um einige Milliardstel eines Winkelgrades pro Jahr. Auch mit modernsten Instrumenten und Auswertungsmethoden stellt der Nachweis solch winziger Verschiebungen eine große Herausforderung dar.

Mithilfe zweier Beobachtungen, die im Abstand von zehn Jahren mit ein und derselben Kamera des Weltraumteleskops Hubble durchgeführt wurden – und dank aufwendiger Auswertungen, die eine Vielzahl von Störquellen berücksichtigen – konnten Brandner und seine Kollegen die nötige Genauigkeit erreichen.

Insgesamt untersuchten die Astronomen 800 einzelne Sterne. Rund 50 davon stellten sich als Vordergrundsterne heraus, die nicht zum betrachteten Sternhaufen gehören. Für 234 der übrigen mehr als 700 Sterne – eine im Hinblick auf Masse und Oberflächentemperatur recht vielfältige Auswahl – ließen sich Positionsänderungen innerhalb des überdeckten Zeitintervalls feststellen, deren Unsicherheit 27 Millionstel einer Bogensekunde pro Jahr beträgt. Zum Vergleich: Wenn ein Beobachter in Bremen aus der Ferne ein bewegtes Objekt in Wien betrachtet, dann entspricht der Bewegung dieses Objekts um die Breite eines menschlichen Haares eine Änderung seiner scheinbaren Position um 27 Millionstel einer Bogensekunde.

Die Verteilung der Sterngeschwindigkeiten überraschte die Forscher. Folgt man weithin akzeptierten Modellen, die mit den Beobachtungen an älteren Kugelsternhaufen gut übereinstimmen, dann sollte die Geschwindigkeit der Sterne in solchen Haufen wie demjenigen in NGC 3603 mit ihrer Masse zusammenhängen: Im Mittel sollten sich Sterne mit geringerer Masse schneller, solche mit größerer Masse langsamer bewegen. Die Sterne des Haufens, für die sich die Geschwindigkeiten hinreichend genau bestimmen ließen, haben Massen zwischen 2 und 9 Sonnenmassen. Doch ihre mittlere Geschwindigkeit hängt nicht von der Masse ab, sondern beträgt durchweg rund 4,5 Kilometer pro Sekunde (entsprechend einer Positionsänderung von rund 140 Millionstel Bogensekunden pro Jahr).

Offenbar hat sich in diesem massereichen Sternhaufen noch kein dynamisches Gleichgewicht eingestellt. Statt dessen dürften die Geschwindigkeiten der Sterne nach wie vor maßgeblich von den Bedingungen geprägt sein, die bei der Entstehung des Haufens aus der diffusen Materie des umgebenden Nebels vor rund einer Million Jahren herrschten. Dieses Ergebnis ist nicht ganz überraschend: Zum Erreichen des Gleichgewichts müssten die einzelnen Sterne mit möglichst vielen anderen Haufenmitgliedern nahe Begegnungen haben, um mit ihnen ihre Bewegungsenergie auszutauschen. Aber die Zeit, die ein Stern typischerweise benötigt, um den Haufen zu durchqueren, beträgt 1,4 Millionen Jahre. Die Mitglieder des Haufens sind also schlichtweg noch zu jung, als dass dieser Austausch bereits vollzogen sein könnte.

Die spannende Frage, ob sich der massereiche junge Sternhaufen in NGC 3603 zu einem gravitativ gebundenen und deshalb langfristig stabilen Kugelsternhaufen entwickeln wird, bleibt offen. Den neuen Ergebnissen nach hängt die Antwort davon ab, welche Geschwindigkeiten die masseärmeren Haufensterne haben. Diese Sterne sind zu leuchtschwach, als dass sich ihre Geschwindigkeiten mithilfe des Weltraumteleskops Hubble genau genug messen ließen. Um herauszufinden, ob die Sterne dieses Haufens mit der Zeit auseinanderlaufen werden oder nicht, sind die Forscher deshalb auf die Teleskope der nächsten Generation angewiesen, etwa das James Webb Space Telescope (JWST), oder das European Extremely Large Telescope (E-ELT) der ESO.

In Zusammenarbeit mit:

Stolte, Andrea (Argelander Institut der Universität Bonn)

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