Erste Einblicke in die hochproduktive Sternenfabrik im Zentrum unserer Galaxis
Dank detailscharfer Beobachtungen ist Astronom*innen erstmals eine repräsentative Untersuchung zahlreicher junger Sterne in den zentralen Regionen unserer Heimatgalaxie gelungen. Die Sternentstehung im galaktischen Zentrum begann demzufolge in der Nähe des Zentrums und setzte sich dann nach außen hin fort. Ähnliche Entwicklungsmuster waren zuvor bereits in den Zentren anderer Galaxien festgestellt worden. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die meisten Sterne in dieser Region nicht in eng gebundenen, massereichen Haufen entstanden sind, sondern in lockeren Sternassoziationen, deren Mitgliedssterne längst getrennte Wege gegangen sind. Die Ergebnisse wurden in Nature Astronomy veröffentlicht.
In der zentralen Region der Milchstraße sind die Sterne deutlich dichter gedrängt als in anderen Bereichen unserer Galaxie. Astronom*innen hegen bereits länger die Hoffnung, diese Regionen unserer Heimatgalaxie als eine Art Labor zur Untersuchung besonders schneller und produktiver Sternentstehung nutzen zu können – eines Phänomens, das in zahlreichen anderen Galaxien auftritt, insbesondere in den ersten Milliarden Jahren der kosmischen Geschichte. Bislang stand dem allerdings entgegen, dass es gerade aufgrund der großen Anzahl von Sternen im galaktischen Zentrum schwierig ist, jene Sterne systematisch zu untersuchen.
Eine neue Analyse auf der Grundlage einer hochauflösenden Infrarotdurchmusterung, die jetzt in der Fachzeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht wurde, liefert nun eine erste repräsentative Rekonstruktion der Sternentstehungsgeschichte in der galaktischen Zentralregion. Sie zeigt außerdem, dass die meisten jungen Sterne im galaktischen Zentrum nicht in massereichen, durch die gegenseitige Schwerkraft eng gebundenen Sternhaufen entstanden sein dürften, sondern in deutlich weniger stark gebundenen Sternassoziationen, deren Sterne sich im Laufe der vergangenen Millionen von Jahren zerstreut haben.
Produktive und unproduktive Galaxien
Unsere Milchstraße ist keine sehr produktive Galaxie. Die neuen Sterne, die in einem Jahr in unserer Heimatgalaxie entstehen, machen zusammengenommen nicht mehr als ein paar Sonnenmassen aus. Sogenannte „Starburst-Galaxien“ sind deutlich effektiver: Während kurzer Episoden, die nur einige Millionen Jahre dauern, entstehen jedes Jahr Dutzende oder gar Hunderte von Sonnenmassen an neuen Sternen! Vor zehn Milliarden Jahren scheint diese Art von hoher Aktivität der Sternentstehung, bei der jedes Jahr Dutzende von Sonnenmassen an neuen Sternen produziert werden, sogar die Norm für Galaxien gewesen zu sein.
Für Astronom*innen ist unsere Milchstraße nicht nur für sich genommen interessant, sondern immer auch ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich etwas über die Eigenschaften von Galaxien im Allgemeinen lernen lässt. Schließlich ist die Milchstraße die einzige Galaxie, die wir aus unmittelbarer Nähe untersuchen können! In Anbetracht der geringen Sternentstehungsaktivität unserer Heimatgalaxie könnte man meinen, dass sie uns allerdings nicht beim besseren Verständnis von Starbursts und anderen Phasen hochproduktiver Sternentstehung helfen kann. Das wäre aber ein Fehlschluss: In den zentralen Regionen der Milchstraße, bis zu Abständen von rund 1300 Lichtjahren vom zentralen Schwarzen Loch unserer Galaxie, waren die Sternentstehungsraten in den letzten 100 Millionen Jahren zehnmal höher als im Durchschnitt. Die Kernregion unserer Galaxie ist so produktiv wie eine Starburst-Galaxie oder wie die hyperproduktiven Galaxien von vor zehn Milliarden Jahren.
Die Herausforderungen bei der Beobachtung der galaktischen Zentralregionen
Allerdings ist es gar nicht so einfach, diese Zentralregionen genauer zu untersuchen. Zunächst einmal sind sie von der Erde aus gesehen hinter großen Mengen von Staub verborgen. Doch zumindest dieses Problem lässt sich leicht lösen, wenn man die Beobachtungen mit Infrarot-, Millimeterwellen- oder Radiostrahlung durchführt. Mit dem Licht solcher Wellenlängen kann man durch Staubwolken weitgehend hindurchschauen. So haben die Gruppen von Andrea Ghez und Reinhard Genzel ihre nobelpreisgekrönten Beobachtungen von Sternen durchgeführt, die das zentrale Schwarze Loch unserer Galaxie umkreisen (Nahinfrarotbeobachtungen), und so hat die Event Horizon Collaboration das erste Bild des Schattens des zentralen Schwarzen Lochs unserer Galaxie erstellt (Beobachtungen mit Millimeterwellen bei 1,3 mm).
Allerdings ist das nicht das einzige Problem. Gerade weil die Sterne im galaktischen Zentrum so dicht gedrängt sind, sind systematische Untersuchungen an jenen Sternen eine Herausforderung. Es ist nämlich alles andere als einfach, in so einer dichtgedrängten Menge überhaupt einen Stern vom nächsten zu unterscheiden! Einzige Ausnahme sind vereinzelte, sehr helle Riesensterne, die besonders leuchtstark sind, auf diese Weise aus der Masse herausragen und daher vergleichsweise leicht vom Rest zu unterscheiden sind.
Das Problem, in diesem Gewimmel einzelne Sterne zu studieren, beschäftigt die Astronom*innen bereits seit einigen Jahren. Dass es in jenen Regionen in den letzten ein bis zehn Millionen Jahren hochproduktive Sternentstehung gegeben hat, steht außer Frage – das Vorhandensein von Wasserstoffgas, das durch UV-Licht von heißen, jungen Sternen in seine Bestandteile aufgespalten (ionisiert) wird, sowie Röntgenstrahlung, die für bestimmte Arten von jungen, sehr massereichen Sternen charakteristisch ist, belegen dies. Aber die Frage „...wo sind dann die resultierenden jungen Sterne?“ blieb offen. Vor der hier beschriebenen neuen Analyse hatten die Astronom*innen nur rund 10 % der erwarteten Gesamtsternmasse im galaktischen Zentrum gefunden – in zwei massereichen Sternhaufen sowie in Form einiger isolierter junger Sterne. Wo waren all die anderen Sterne, und welche Eigenschaften hatten sie?
Millionen von Sterndaten aus einer detaillierten Durchmusterung
Das war die Ausgangsfrage für die Autor*innen des jetzt neu veröffentlichten Artikels. Francisco Nogueras-Lara, unabhängiger Humboldt-Forschungsstipendiat in der Lise-Meitner- Gruppe von Nadine Neumayer am Max-Planck-Institut für Astronomie, und ihr Kollege Rainer Schödel vom Instituto de Astrofísica de Andalucía in Granada, Spanien, waren dabei in einer besonders guten Ausgangsposition für die Suche nach den fehlenden jungen Sternen im galaktischen Zentrum: Schödel ist Leiter (Principal Investigator, PI) von GALACTICNUCLEUS. Im Rahmen dieser Durchmusterung wurden mit der Infrarotkamera HAWK-I am Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte fast 150 Bilder (in den Infrarotbändern J, H und Ks) von der Zentralregion der Milchstraße angefertigt. Die Bilder decken insgesamt ein Gebiet von 64.000 Quadratlichtjahren rund um das galaktische Zentrum ab.
Unter der Leitung von Nogueras-Lara begann dann die Suche nach den fehlenden jungen Sternen. Um einzelne Sterne in einer solcherart überfüllten Himmelsregion zu identifizieren, ist eine hohe Auflösung erforderlich – eine besonders gute Fähigkeit, kleine Details am Himmel zu erkennen und auseinanderhalten zu können. Jedes der vier VLT-Teleskope besitzt einen 8-Meter-Spiegel. Mit sogenannter holografische Bildgebung – dabei werden mehrere kurz belichtete Bilder in geeigneter Weise kombiniert, um die Unschärfeeffekte der Erdatmosphäre auszugleichen – gelang es im Rahmen der Durchmusterung, die Zielregion viel feiner als je zuvor zu kartieren (mit einer Auflösung von 0,2 Bogensekunden). Wo zuvor nur eine Handvoll Sterne kartiert werden konnte, lieferte GALACTICNUCLEUS individuelle Daten für 3 Millionen.
Eigenschaften der Sterne im galaktischen Zentrum
Als sich die Forscher*innen (Falschfarben-)Bilder der GALACTICNUCLEUS-Durchmusterung anschauten, fiel ihnen sofort die als Sagittarius B1 bekannte Region im galaktischen Zentrum ins Auge. Diese Region enthält wesentlich mehr junge Sterne, die das umgebende Gas ionisieren, als andere Regionen – das ist auf Bildern der Region deutlich zu erkennen. Diese Besonderheit der Region kam nicht überraschend. Frühere Beobachtungen, insbesondere von Licht, das charakteristisch für Wasserstoffgas ist, was von heißen Sternen ionisiert wird, hatten das bereits gezeigt. Aber mit den hochaufgelösten GALACTICNUCLEUS-Daten waren Nogueras-Lara und seine Kolleg*innen nun erstmals in der Lage, die Sterne in dieser Region im Detail zu untersuchen.
Selbst mit ihrer hochauflösenden Durchmusterung konnten die Astronom*innen zwar nur Riesensterne individuell untersuchen (keine so genannten Hauptreihensterne wie unsere Sonne), aber die Daten der drei Millionen Sterne, die sie separat untersuchen konnten, enthielten bereits eine Fülle von Informationen. Insbesondere konnten die Astronom*innen die Helligkeit jedes einzelnen Sterns ableiten. Dafür mussten sie die Abschwächung des Sternenlichts durch den Staub zwischen uns und dem betreffenden Stern dokumentieren und herausrechnen. Alle Sterne in Sagittarius B1 sind etwa gleich weit von der Erde entfernt, und die Entfernung von der Erde zum galaktischen Zentrum ist bekannt. Mit diesen Informationen konnten die Astronom*innen die Leuchtkraft jedes Sterns rekonstruieren, also die Lichtmenge, die ein Stern pro Zeiteinheit aussendet.
Rekonstruktion der Sternentstehungsgeschichte im galaktischen Zentrum
Besonders interessant ist dabei die statistische Verteilung der Leuchtkraft dieser Sterne, sprich: wie viele Sterne jeder „Helligkeitsstufe“ sich in Sagittarius B1 befinden. Bei Sternen, die gleichzeitig geboren wurden, ändert sich diese Helligkeitsverteilung im Laufe der Zeit auf regelmäßige und vorhersehbare Weise. Im Umkehrschluss lässt sich aus solch einer Helligkeitsverteilung zumindest eine grobe Geschichte der Sternentstehung ableiten: Wie viele Sterne sind vor mehr als 7 Milliarden Jahren entstanden? Wie viele etwa in der Zeit zwischen 2 und 7 Milliarden Jahren? Wie viele in jüngerer Zeit? Die Leuchtkraftverteilung liefert zumindest eine statistische Antwort auf diese Fragen.
Als Nogueras-Lara, Neumayer und Schödel die Leuchtkraftverteilung analysierten, stellten sie fest, dass es in Sagittarius B1 tatsächlich mehrere Phasen der Sternentstehung gegeben hatte: eine ältere Population von Sternen, die sich vor 2 bis 7 Milliarden Jahren gebildet hatten, und eine große Population deutlich jüngerer Sterne, die nur 10 Millionen Jahre alt oder sogar noch jünger waren. Nogueras-Lara sagt: „Das ist ein beachtlicher Fortschritt bei der Suche nach jungen Sternen im galaktischen Zentrum. Die jungen Sterne, die wir gefunden haben, haben eine Gesamtmasse von mehr als 400.000 Sonnenmassen. Das ist fast zehnmal so viel wie die kombinierte Masse der beiden massereichen Sternhaufen, die bisher in der Zentralregion bekannt waren.“
Wenn Sternentstehung von innen nach außen läuft
Die untersuchten Sterne in der Region Sagittarius B1 sind nicht Teil eines massereichen Sternhaufens, sondern locker verteilt. Das deutet darauf hin, dass sie in einer oder mehreren sogenannten Sternassoziationen entstanden sind. Deren Sterne sind durch ihre wechselseitige Schwerkraft von vornherein weniger stark aneinander gebunden. Auf ihrer Umlaufbahn um das galaktische Zentrum würden sich solche Sternassoziationen auf Zeitskalen von mehreren Millionen Jahren ganz auflösen – zurück bleiben zahlreiche einzelne Sterne. Und auch wenn sich dieses Resultat erst einmal direkt auf Sagittarius B1 bezieht, könnte es ganz allgemein erklären, warum die jungen Sterne im galaktischen Zentrum nur durch hochauflösende Studien wie die vorliegende Arbeit gefunden werden können: wenn ein großer Teil von ihnen ebenso in lockeren Sternassoziationen entstanden ist, die sich inzwischen in Einzelsterne aufgelöst haben.
Interessant ist sind auch die älteren Sternpopulationen in Sagittarius B1. In den innersten Regionen des galaktischen Zentrums gibt es Sterne, die älter sind als 7 Milliarden Jahre, aber praktisch keine Sterne im mittleren Altersbereich zwioschen 2 und 7 Milliarden Jahren. Das legt nahe, dass die Sternentstehung in der Zentralregion in der innersten Region begann und sich dann auf die äußeren Regionen ausbreitete. Bei anderen Galaxien wurde solch ein allgemeiner räumlicher Trend bei der Sternentstehung, von innen nach außen, für die zentralen inneren Sternscheiben ("nuclear disk"; eine Scheibe aus Sternen, die das jeweilige galaktische Zentrum umgibt) bereits beobachtet. Den neuen Analysen nach gab es in der zentralen Region unserer Heimatgalaxie einen sehr ähnlichen räumlichen Trend.
Nächste Schritte
So überzeugend die Beweise aus den Infrarotbildern bereits sind, sowohl für die Rekonstruktion der Sternentstehungsgeschichte als auch für den Gesamttrend der Sternentstehung, so sehr sind die Astronom*innen bestrebt, ihre Schlussfolgerungen auf eine noch solidere Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck planen Nogueras-Lara und seine Kolleg*innen, ihre Beobachtungen mit dem KMOS-Instrument am VLT weiterzuverfolgen, einem hochpräzisen Spektrografen. Die Rückschlüsse der jetzt veröffentlichten Studie zur Sternenstehung wurden statistisch, auf der Grundlage der Verteilung der Leuchtkräfte der identifizierten Sterne getroffen. Spektralbeobachtungen würden es den Astronom*innen ermöglichen, einige der sehr jungen Sterne direkt anhand des Aussehens ihrer Spektren zu identifizieren. Das wäre eine wichtige Möglichkeit, die jetzt veröffentlichten Ergebnisse zu überprüfen.
Darüber hinaus wollen die Astronom*innen die Bewegungen der neu entdeckten Sterne am Himmel verfolgen – das ist die sogenannte Eigenbewegung jener Sterne. In der Nähe des galaktischen Zentrums bewegen sich die Sterne vergleichsweise schnell. Obwohl sich diese Sterne in einer Entfernung von etwa 26.000 Lichtjahren von der Erde befinden, wird man deshalb durch sorgfältige Beobachtungen im Laufe einiger Jahre ihre Positionsveränderungen am Himmel messen können. Sterne, die in ein und demselben Sternverband entstanden sind, zerstreuen sich im Laufe der Zeit, behalten dabei aber ungefähr eine einheitliche Bewegungsrichtung bei. Aus den Eigenbewegungen ließen sich deswegen Rückschlüsse ziehen, ob die Sterne in Sagittarius B1 tatsächlich in einem oder mehreren losen Verbänden geboren wurden.
Abschließend sagt Nadine Neumayer: „Beide Arten von Messungen werden hoffentlich dazu dienen, die Ergebnisse die wir veröffentlicht haben, zu bestätigen. Auf alle Fälle werden wir unsere Analyse durch die neuen Messungen verfeinern können. Parallel dazu werden wir und unsere Kolleg*innen untersuchen, was sich aus unseren neuen Erkenntnissen zur Sternentstehung im galaktischen Zentrum über die hochproduktive Sternentstehung in anderen Galaxien ableiten lässt.“
Hintergrundinformationen
Die hier beschriebenen Ergebnisse wurden veröffentlicht als F. Nogueras-Lara et al., “Detection of an excess of young stars in the Galactic Center Sagittarius B1 region” in der Zeitschrift Nature Astronomy. Die beteiligten MPIA-Wissenschaftler*innen sind Francisco Nogueras-Lara und Nadine Neumayer, in Zusammenarbeit mit Rainer Schödel (Instituto de Astrofísica de Andalucía, Granada, Spanien).
Die GALACTICNUCLEUS-Durchmusterung nutzt Teleskope des Paranal-Observatoriums der Europäischen Südsternwarte (ESO). Die Arbeit von Nadine Neumayer ist Teil der Beteiligung des MPIA am Sonderforschungsbereich SFB 881 der Universität Heidelberg.